Letzter Vorhang
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Die Bahn Richtung Friedrichstraße war losgefahren und
so rüttelte nun das für unsere Hauptstadt ungewöhnlich
gepflegte Regierungsviertel vorbei.
In gut zweieinhalb Stunden würde die vierhundertdreiundsechzigste
Vorstellung von Einer flog über das Kuckucksnest
beginnen, einer Produktion, die im Herbst 1989 entstanden
war und wie keine andere die revolutionäre Tugend jener
Zeit beschworen hatte. Das war übrigens nicht meine Privatmeinung,
sondern stand am Vortag - als Tipp zum Wochenende
- fast buchstäblich so in der Zeitung.
Das Theater, unser Liebknecht-Theater, war damals das
Glashaus gewesen. Ich einer von denen, die drin gesessen
hatten. Und jetzt spielten wir dieses Stück im achtundzwanzigsten
Jahr. Die Vorstellung war auch diesmal ausverkauft.
Und darauf würde der letzte Vorhang folgen.
Vor nicht einmal drei Jahren hatte ich dafür gesorgt,
dass sie die Abendspielleitung von Kuckucksnest übernahm.
Doch im letzten Herbst hatte ich zugelassen, dass sie diese
Produktion gegen Malapartes Die Haut getauscht hatte, weil
dort jemand krank geworden war. Gegen meinen Willen
hatte ich das zugelassen. Sie war die weitaus bessere Assistentin
gewesen als Leitterfeldt, der seitdem Kuckucksnest
betreute. Hätte ich im letzten Herbst meinen Willen durchgesetzt,
würde ich sie unweigerlich heute Abend im Theater
sehen.
Meine revolutionäre Tugend war mitnichten unerschöpflich.
Im besten und im schlimmsten Fall sollte ich
noch heute herausfinden, was sie mit ihrem orakelhaften
Warte nicht auf mich gemeint hatte. Im besten Fall würde sie
spätestens heute Nacht in der Solinger auftauchen und sich
still neben mich legen. Wir würden über Oia reden. Über die
Intimität im Glashaus. Eine konkrete Zukunft. Sie würde
sich an meinen ausgezehrten, liebebedürftigen Körper klammern.
Irgendwann würde das Knistern zurückkehren.
Aber es gab einen viel wahrscheinlicheren Fall: Sie war
zu Stölzli zurückgekehrt. Der schlimmstmögliche Fall,
schoss es mir durch den Kopf, als ich gerade mein rechtes
Ohr gegen die Fensterscheibe des Waggons drückte und die
Augen geschlossen hielt. Stölzli! Oh, worauf ich mich dann
gefasst machen musste! In zwei Stunden, noch vor der Vorstellung,
würden wir uns ja über den Weg laufen. Er, in seiner
verbindlichen Art, würde mich grüßen. Einen unbestimmten,
gut gespielten Skrupel in der Visage. Ich hörte ihn bereits mit
belegter Stimme sagen: Können wir später drüber reden?
Ausgeschlossen war das beileibe nicht. Leute wie Stölzli
kriegen emotional instabile Frauen mühelos herum. Sie war
derzeit emotional instabil. Wegen des Mangels an Auseinandersetzung,
meiner Versunkenheit, wegen der Zukunft.
Immer leutselig, Merci hier und Merci da und Grüezi
miteinand, wie die Schweizer halt so sind, wendete Stölzli
virtuos seine Tricks an. Besonders das notorische Versteckspiel
in der Anwendung des Hochdeutschen machte was her.
Vor allem die Westdeutschen haben oft genug eine erotische
Schwäche für den radebrechenden Ausländer bewiesen.
Besonders im Showgeschäft.
Sie war eine Westdeutsche. Er der Show-Affe. Wie
Wilhelm Tell reden, aber wie Robert de Niro aussehen. Mir
reichte er nur bis zum Schlüsselbein, aber für Frauen in
einem bestimmten Zustand reichte er damit weit genug.
Womöglich nun zum wiederholten Mal auch für sie.
Im Kuckucksnest standen wir uns in einer Szene auf
wenige Zentimeter gegenüber. Er McMurphy, ich Häuptling
Bromden. Er quasselte irgendwelches Vierwaldstätterdeutsch
auf mich ein, als hätte er Kieselsteine im Hals, ich
ließ das schweigend über mich ergehen. Die Leute dachten
immer, das sei Kunst. Dabei war es bei ihm Natur. Pure
Schweizer Natur. Selbstredend hatte er so die besseren Karten.
Es fiel ihm zu.
Autor: | Schindhelm, Michael |
Nakladatel: | Verlag Theater der Zeit |
Rok vydání: | 2017 |
Jazyk : | Němčina |
Vazba: | Paperback / softback |
Počet stran: | 256 |
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